Wrist – horizontale Ausfahrt

Wo: Wrist
Wann: März 2014

Heute ist es soweit. Ich stehe mit drei Freunden auf dem Parkplatz eines Lebensmittelmarktes in Wrist und begutachte vier seltsame Konstruktionen aus knallgelb und silber lackiertem Metall. Damit sollen wir gleich 30 Kilometer weit fahren? Mein Physikwissen sagt mir: Ein tiefer Schwerpunkt gibt Stabilität. Mein Bauchgefühl sagt mir aber, dass es gleich wesentlich wackeliger wird, als alle physikalischen Theorien das voraus berechnen können.Eine Liegeradtour als Geburtstagsgeschenk für Guntram. Wer war noch gleich auf diese Idee gekommen? Egal, der Erste faltet sich in den Aluminiumrahmen, begleitet von aufmunternden Worten des Liegerad-Konstrukteurs Arved Klütz (Toxy), bei dem wir unsere Räder für diesen Ausflug geliehen haben. Für die wenigen Spaziergänger muss es so aussehen, als ob vier Schulkinder zum ersten Mal ohne Stützräder fahren. Mit einem ordentlichen Schubs und einer kurzen Begleitung im Laufschritt entlässt Arved Klütz jeden von uns zu einer Probefahrt auf den Parkplatz.

Toxy ZR Wrist

Jetzt bin ich an der Reihe. Der Tipp, mit dem Rücken fest an der Lehne zu bleiben, verhallt ungehört und nach nur zwei Pedal-Umdrehungen ist Schluss. Puh, gar nicht so einfach. Der nächste Versuch, fest im gemütlichen Sessel sitzend, ist schon besser. Ich fahre. Geradeaus ist das kein Problem, nur der Unterstand für die Einkaufswagen kommt auf einmal ganz schön schnell näher. Links dran vorbei wäre gut. Ich verlagere mein Gewicht, wie ich es von meinem normalen Fahrrad gewohnt bin, und nichts passiert. Bremsen, absteigen und umdrehen. Nächster Versuch, jetzt ohne das Gewicht zu verlagern und mit beherztem Lenken. Es geht!

Ich bin begeistert. Wenn man den kritischen Startmoment überwunden hat und etwas Fahrt aufnimmt, ist alles ganz einfach. Wir drehen noch ein paar Runden auf dem Parkplatz und alle stellen eins fest: Mit Fahrradfahren, wie wir es seit Jahrzehnten praktizieren, hat das hier nichts zu tun. Unser Vermieter entlässt uns, nach ein paar Übungsminuten mit einem Gruppenfoto in unser Abenteuer.

Gruppenfoto mit Liegerädern (c) spinagel.de

Jetzt sind wir wohl bereit für den normalen Straßenverkehr. Es geht zum Glück erst einmal durch eine 30-Zone, in der die wenigen Autos, die uns entgegenkommen, mit Schrittgeschwindigkeit so weit auf den Grünstreifen fahren, dass sie fast die Zäune der benachbarten Grundstücke streifen. Ich habe das Gefühl, dass wir nicht die Ersten sind, die breit grinsend versuchen, dieses ungewohnte Gefährt irgendwie auf der Straße zu halten.

Nach ein paar Kilometern muss ich mich nicht mehr darauf konzentrieren geradeaus zu fahren und kann mich auch nebenbei noch entspannt unterhalten. Einige Kilometer später radele ich sogar einhändig, fummele meine Kamera aus der Jackentasche und mache Fotos und Filme von diesem ungewöhnlichen Tag. Die Perspektive ist völlig anders, die Pferde auf der Weide gucken zu uns runter und der laut bellende Hofhund ist mit uns auf Augenhöhe. Gut, dass uns noch ein Zaun trennt.

Liegeradtour Landstrasse (c) spinagel.de

Trotzdem werfen die Liegeräder jeden einmal ab. Meistens weil alte Gewohnheiten vom normalen Fahrrad kurz durchkommen. Der Erste tritt einfach nach unten,  weil da immer die Pedale waren, der Zweite startet in einem zu großen Gang und kommt nicht schnell genug in Fahrt und der Dritte lehnt sich einfach nicht fest genug an. Nur Nummer vier bleibt immer fest im Sattel. Der zählt aber auch nicht, weil er – anders als der Rest – vorher schon öfter Liegerad gefahren ist und selbst zwei Liegeräder besitzt.

So lange wir auf dem von Toxy vorgeschlagenen Rundweg bleiben, scheinen alle unsere seltsamen Fortbewegungsmittel zu kennen. Die Autos fahren vorsichtig an uns vorbei und kaum einer beachtet uns. Ab Kellinghusen schlagen wir uns aber auf eigene Faust durch. Auf einmal drehen sich die meisten Passanten nach uns um, als ob wir Aliens wären, die mit ihren gelben Earth-Rovern diesen Planeten erkunden. In einem Wohngebiet kreuzt eine alte Frau mit ihrem Rollator unseren Weg. „So was hat es früher nicht gegeben“, ruft sie mir zu. „Fahren Sie ruhig vor, junger Mann, das sieht bei Ihnen wackeliger aus als bei mir.“ Danke! Von jemandem, der mindestens doppelt so alt aussieht wie ich, vorgelassen zu werden, das ist mir noch nie passiert. Aber wahrscheinlich hat sie recht. Quer über die Straße, einen Kantstein rauf und danach eine Steigung bewältigen ist mit etwas Schwung sicherlich besser als mitten auf der Straße stehen zu bleiben und erst einmal den Rollator mit Omi im Schlepptau vorbei zu lassen.

Kurz vor unserem Ziel Wrist wird es noch einmal eng: Betonplattenwege, maximal 50 cm breit, und auf beiden Seiten ein Absatz, der nicht so aussieht, als könnte man einfach so wieder auf den rettenden Weg zurückfahren. Das gepaart mit Pfützen, Matsch und Pferdeäpfeln sorgt zwangsläufig für eine etwas konzentriertere Fahrweise. Kein Problem für uns, wir sind doch inzwischen fast Profis. Als wir an einer Kreuzung anhalten, um auf der Karte nach dem richtigen Weg zu schauen, passiert es dann doch … Beim Anfahren schaue ich noch kurz nach rechts – Pferdemist und eine große Pfütze. Wenn jetzt die Kette abläuft, wie schon dreimal heute, muss ich mir schnell etwas einfallen lassen. Während ich das denke und beherzt in die Pedale trete, höre ich ein vertrautes Krrk und trete ins Leere. Ein beherzter Sprung auf den Grünstreifen ist das Einzige, was mir jetzt einfällt, er rettet mich vor einem totalen Schlammbad. Nur das rechte Hosenbein und mein Rad haben ein wenig Matsch abbekommen. Die ölverschmierten Hände vom Kette auflegen sind fast schlimmer, die kenne ich aber inzwischen.
Den nächsten Startversuch mache ich lieber nach einer kurzen Schiebung auf einem  trockeneren Stück des Weges. Wenig später kommen wir auch wieder in Wrist bei unserem Fahrradverleih an. Jetzt haben wir uns den zweiten Teil des Geburtstagsgeschenks, den Abend in einem Wellnesshotel mit Sauna und frisch gezapften Bier, auch redlich verdient.

Absprung (c) spinagel.deWas ich heute gelernt habe: Nicht alles was zwei Räder und Pedale hat fährt sich wie ein normales Fahrrad. Spaß macht es aber auf jeden Fall mit den knallgelben Liegerädern durch die norddeutsche Landschaft zu gleiten. Das zeigt auch der folgende NDR-Beitrag:

Sechs Dinge, die man beachten sollte, wenn man auf einem Liegerad fährt:

  • Gut anlehnen, das gibt Stabilität.
  • Beim Aufsteigen Bremse ziehen und festhalten.
  • Beim Anhalten immer in einen kleinen Gang wechseln. Für eine stabile Geradeausfahrt braucht man ein wenig Geschwindigkeit. In einem großen Gang anfahren, funktioniert nicht wirklich.
  • Wenn man um die Kurve will: Lenken! Hört sich komisch an, ist aber so. Beherzt am Lenker ziehen ändert bei einem Liegerad die Richtung, Gewicht verlagern fast gar nicht.
  • Am Anfang ruhig eine Handbreit mehr Abstand zum Straßenrand lassen. Je mehr Erfahrung, desto weniger Zickzack.
  • Die Rückspiegel einstellen. Umdrehen ist bei den meisten Modellen prinzipbedingt recht schwierig. Die Rückspiegel sind sehr hilfreich, wenn man wissen möchte, was hinter einem los ist.

Text und Fotos: Boris Kohnke
Filme: Boris Kohnke
, NDR

Toxy in Wrist

Wer einmal selbst ein Liegerad in Norddeutschland ausprobieren möchte, ist in Wrist bestens aufgehoben. Hier ist der Hersteller Toxy beheimatet. Inhaber Arved Klütz entwickelt und baut seit seiner Jugend Liegeräder. 1994 hat er sein Hobby zum Beruf gemacht. Jetzt werden in seiner Firma in dem kleinen Ort zwischen Kellinghusen und Itzehoe jährlich mehrere Hundert individuelle Liegeräder gefertigt. Mehr Knowhow und Geschichten rund um diese ungewöhnlichen Fahrzeuge sind im Norden wahrscheinlich schwer zu finden.Das Angebot von Toxy umfasst eine breite Palette an Liegerädern. Vom Klassiker CL über ein Faltliegerad, ein E-Bike und das Rennbike ZR mit Frontantrieb bis hin zum dreirädrigen Transportrad Trimobil hier sollte für jeden Geschmack etwas dabei sein.

Räder von der Stange gibt es bei Toxy nicht, jedes Rad wird individuell auf die Wünsche und Maße des zukünftigen Besitzers zugeschnitten. Der Preis ist deswegen auch deutlich höher als bei einem normalen Fahrrad. Wenn man sich aber die Technik genau ansieht, stellt man schnell fest, dass der Preis gerechtfertigt ist. Außerdem machen die Liegeräder den Eindruck als wären sie für die Ewigkeit gebaut.

Neben der großen Auswahl an Fahrzeugen und der fachkundigen Beratung ist bei einer Probefahrt die geringe Verkehrsdichte in Wrist und Umgebung ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Auf den ersten Kilometern fährt es sich deutlich entspannter, wenn man nicht noch zusätzlich auf Autos achten muss.

 

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